Bericht des Landesbischofs zur Landessynode

Nachricht Kirchenkreis, 12. Mai 2023
epd Bild Jens Schulze

 

 

 

 

 

 

 

 

Schriftlicher Bericht

zur VIII. Tagung der 26. Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers

12. Mai 2023

Es gilt das gesprochene Wort

 

 

Verehrtes Präsidium, liebe Synode, 

 

Die Krönung

vor knapp einer Woche geschah etwas, davon werden wir unseren Kindern und Enkelkindern noch erzählen: Die Krönung von King Charles III. in der Westminster Abbey in London.

Hundertausende säumten den Weg, rund sieben Millionen Menschen verfolgten diese Zeremonie allein in Deutschland an den Bildschirmen. Ich selbst habe dieses Ereignis gesehen, während ich am Schreibtisch saß und dabei versuchte, den Bischofsbericht fertigzustellen. Aussichtslos. Eine Menge von Gedanken umkreisten mich. Einerseits: Wie faszinierend ist diese großartige Zelebration, wie symbolisch und zugleich historisch die Liturgie. Spannend, die Menschen zu betrachten, die vornehm gekleidet sich zu einem solchen Anlass einer Königskrönung einfanden, dessen König nun zugleich formell das Oberhaupt der Church of England ist. Und andererseits: Was soll ein gekröntes Staatsoberhaupt in einer der ältesten Demokratien der Welt. Und was kostet die ganze Veranstaltung? Dennoch habe ich nicht abschalten können. Das Interesse an einem Ereignis, welches hoch ambivalent ist, unglaublich teuer und zugleich ein historischer Schnappschuss, bannte mich, besonders als neugierigen Theologen und Kirchenvertreter. Womit begann die Liturgie? Mit einem Kind. Das Kind begrüßt den König mit den Worten: „Als Kind aus dem Königreich Gottes heißen wir dich willkommen im Namen des Königs der Könige.“ Was für eine Einordnung. Der Jüngste reklamiert seine Rolle als Gotteskind im Königreich Gottes. Und der König in der Welt, King Charles, antwortet: „In seinem Namen und nach seinem Vorbild komme ich, nicht dass mir gedient werde, sondern dass ich diene.“ Erinnerungen an biblische

Erzählungen und Jesu Worte tauchen auf: „Ich bin unter euch wie ein Diener“ (Lk 22,27) oder „Wahrlich ich sage euch, wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Lk 18,17). Die Erläuterungen zu dieser gesamten Liturgie wurden im Netz zur Verfügung gestellt. Was für ein Service. In diesen Erläuterungen findet man den Hinweis: Das Königreich Gottes ist kein Platz, sondern ein Weg, eine Lebensweise, a way of being. Der Gottesdienstablauf hat mit Erläuterungen einen Umfang von 45 Seiten und geht immer wieder auf biblische Gedanken zurück. Bis zum zentralen Moment der Salbung. Im Fernsehen nicht gezeigt und den meisten Menschen vielleicht am fremdartigsten, uns Christinnen jedoch vertraut.

Zum einen dadurch, dass Salbungen in Gottesdiensten langsam an bestimmten Tagen und

Ereignissen wieder eingeführt werden - meine Frau und ich erleben es immer im

Silvestergottesdienst in St. Marien am Alexanderplatz. Zum anderen, weil wir es mehrfach in der Bibel lesen. Darunter in dem Psalm, den die meisten von uns noch auswendig aufsagen können, Psalm 23: „Du salbest mein Haupt mit Öl.“  Da geht es nicht um den König, sondern um uns.

Stundenlang könnte ich über diese liturgische Form nachdenken. Die Salbung als ein besonderes

Segnungsritual in Gottesdienst wird in der evangelischen Kirche wieder entdeckt und in Gottesdiensten in unserer Landeskirche zunehmend praktiziert. Unsere Agenden haben das bis auf die Taufsalbung und Krankensalbung noch nicht aufgenommen. Aber ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, dann sind die ersten wissenschaftlichen Betrachtungen dazu in den liturgischen Fachzeitschriften. Die Medien überschlugen sich am Samstag mit Berichten vom Krönungsgottesdienst. Wann gibt es auf allen Kanälen im Fernsehen, in allen Netzwerken für ein paar Stunden schon ein einziges Thema, welches weitgehend in einer Kirche stattfindet? 

Und dann war ich am vergangenen Sonntag zu Gottesdiensten zur Predigt eingeladen. Zwei

Besuche im Sprengel Hildesheim-Göttingen. In zwei kleinen Gemeinden. In Afferde, ein Hamelner

Stadtteil mit einer alten Kirche, die vor 250 Jahren komplett erneuert werden musste. Und in Edesheim, 200 Jahre Grundsteinlegung in der St. Mauritiuskirche, in der Nähe von Northeim. In der ersten Gemeinde wurde auch die Pastorin verabschiedet, und so geschah es, dass ich die Entpflichtungsurkunde verlas, die ich wie üblich selbst unterschrieben hatte. In beiden Gottesdiensten wurde ich sehr herzlich empfangen von Menschen, die mit Leib und Seele, Herz und Verstand ihre „Kirche am Laufen“ halten. In Edesheim zogen wir festlich in die Kirche ein und mit dabei waren, teilweise mit Fahnen, der Männergesangverein Edesheim, Trägerverein Dorfgemeinschaftshaus Edesheim e.V., Schützenverein Edesheim e.V., Turn- und Sportverein

Edesheim von 1920 e.V., Freiwillige Feuerwehr Edesheim, Schäfereigenossenschaft Edesheim, Musikfreunde Edesheim-Hohnstedt-Northeim e.V. mit musikalischer Begleitung draußen und beim Auszug aus der Kirche, Siedlergemeinschaft Edesheim, Ortsrat Edesheim,

Jagdgenossenschaft Edesheim, Realgemeinde Edesheim, Feldmarksgenossenschaft Edesheim.

Und das alles in einem Ort, ein Stadtteil von Northeim seit 1973, der im Januar 2023 

775 Einwohner*innen hatte. Dieser Einzug dauerte nicht ganz so lange wie in Westminster Abbey am Tag zuvor, hatte aber eine menschliche Nähe und einen Gemeinschaftscharakter, die diesen Nachmittag zu einem Fest werden ließen. Und mittendrin eine Kirche, die für diesen Gemeinschaftscharakter wesentlich ist. Kein Wunder, dass ich sowohl in Afferde wie in Edesheim von Kirchenvorstandsmitgliedern beim Kaffeetrinken um konkrete Mithilfe bei der notwendigen Pfarrversorgung gebeten wurde. Denn auch in Edesheim wird das Ehepaar im Juli die Stelle wechseln und eine Vakanz droht. Alle Veränderungen, vor denen wir stehen, waren sichtbar an diesem Tag. Keine Pastorin, kein Pastor wohnt mehr in den Orten, in denen die Kirche steht, teilweise schon seit vielen Jahren. Die alten Pfarrhäuser sind längst vermietet oder verkauft. Auch

Gottesdienste finden nicht mehr an jedem Sonntag in den Kirchen statt. Und so wird zwischen

Erdbeertorte und Butterkuchen auch die Finanzverteilung beklagt, wenn landreiche

Kirchengemeinden, deren Landbesitz einstmals auch aus Schenkungen vor Ort entstanden ist, den größten Teil der Pachteinnahmen abgeben müssen. In Afferde wird das Gemeindehaus, ein altes großes Gebäude mit Wohnungen, in den kommenden Wochen abgerissen. Die

Wohnungen erbrachten nicht ausreichend Erträge zur Bauunterhaltung, und nun wird ein kleines Gemeindehaus neu errichtet. Eine Notiz im Kirchenbüro in Afferde weist auf den unmittelbar bevorstehenden Auszug und einen Flohmarkt hin, wo die noch brauchbaren Dinge in einer

Woche verkauft werden, von Zimmertüren bis zu den Lampen. In Edesheim ist auch der Patron Graf von Hardenberg anwesend, und ich denke zurück an die lange Reihe der Dukes, Earls und Princes am Vortag in Westminster. 

Sie erkennen: Zwei Mal ein ganz normales Gemeindeleben - mit grundlegenden Veränderungen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hindurchgegangen sind. Der Veränderungsmut von Kirchenvorständen, Pastorinnen und allen anderen Mitarbeitern ist erstaunlich. Frauen und Männer, die seit Jahrzehnten diese Gemeinden durch anstrengende wie gute Zeiten führten und dafür Sorge trugen, dass die Kirche in der Mitte des Dorfes blieb. Das alles mag für Sie vielleicht zu schön beschrieben sein. Doch für mich sind diese Besuche Ermutigungen. Sie zeigen, wieviel sich verändern lässt und auf welchen Wegen sich Gemeinden schon befinden. 

Die Krönung von King Charles III. blieb ein ambivalentes Ereignis. Sie wirkte wie aus der Zeit gefallen. Nichts wurde idealisiert und manches blieb fremdartig, altmodisch, weltfern. Und doch war dieser Gottesdienst einzigartig, und er blieb für mich die einzige Möglichkeit. Wie sonst hätte dieser König eingeführt werden können? Für mich sagt das viel über die Sorgfalt, die wir aufwenden, um uns auf unsere einzigartigen Beiträge zu konzentrieren, die wir als Kirche zum Zusammenhalt dieser Gesellschaft liturgisch leisten können. 

Die Ambivalenz im Krönungsgottesdienst habe ich auch in beiden Gemeinden am vergangenen

Sonntag erlebt. Da werden Gebäude abgerissen und unklare Situationen ausgehalten. Die Überforderung durch die Veränderungen war spürbar. Zugleich wurde Gottesdienst gefeiert, der über die Unwägbarkeiten hinaus eine Vergewisserung war. Ein Raum der Gewissheit. Texte wurden gelesen als Zuversicht aus einer alten Zeit, es gab Raum für Klage und für Hoffnung. Raum für etwas Anderes, höher als alle Vernunft. Wir helfen dabei, die Kirche als Medium für eine gottgestiftete Gemeinschaft in ihren vielen Arten und Weisen zu erhalten. Sie hat einen unersetzlichen Wert für die Gesellschaft. Sie kann Vorgänge abbilden, wie eine Krönung eines Königs, die Verabschiedung einer Pastorin, die Eröffnung einer Plenarwoche des Landtags oder die Trauerfeier für einen Menschen. Sie entzieht sich allen Maßstäben unserer Welterklärung und schafft Gott Raum. Ein Gebet-Büchlein für die 28 Tage von Ostern bis zur Krönung führte mich bis zum Krönungstag, herausgegeben von der Kirche Englands. Ein kurzer biblischer Text, wenige erklärende Sätze, ein Gebet. Mehr nicht.  Dabei ging es nicht allein um den König, es war eine Einführung ins geistliche Leben, die für jeden von uns galt. Unter Überschriften wie „Selbstbeherrschung“, „Sanftmut“, „Treue“, „Großzügigkeit“, „Freundlichkeit“, „Geduld“ wurden die Tage überschrieben. Ich habe diese kurzen Texte jeden Tag mit Demut und viel Selbstkritik gelesen.

Ich hörte von dem Kongress „Quo vadis, Gottesdienst?“ vor wenigen Tagen im Michaeliskloster Hildesheim. Prof. Jochen Arnold lud Menschen ein, „die den Gottesdienst lieben, die sich aber auch kritisch zu ihm verhalten und womöglich gar nicht mehr daran glauben, dass er sich noch ändern könnte“. 130 Teilnehmerinnen aus dem Bundesgebiet waren dabei. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Pastorin Julia Koll betrachtete die regionalisierten Gottesdienstpläne und beschrieb eine Fülle von Ideen. Die Initiative, dass in allen Fusionsplänen und Verbindungen von Kirchengemeinden der Gottesdienst, in welcher Form auch immer, im Mittelpunkt stehen muss, nicht als ferne, sondern als die schon jetzt bestehende und immer bleibende Verbindung zwischen uns, muss ins Zentrum rücken. Vor allen Jahresbilanzen, Gemeindehausverkäufen oder gar Kirchenentwidmungen. Vor allem anderen sind die Gottesdienste unser öffentlicher, geistlicher Ausdruck über den, dem wir das eigene Leben, das Leben unserer Kirche, das Leben dieser Welt verdanken. Nichts unterbricht uns so konsequent wie das Gebet. Keine gute Tat ohne

Gebet, keine Grundsteinlegung ohne Gebet, kein Kirchenjubiläum, keine Tagung der Landessynode ohne Mittags- und Abendgebet, ohne Andachten, keine Mitarbeiterinneneinführung oder Verabschiedung ohne Gottesdienst; auch keine Krönung. Gewiss, nicht jeder Gottesdienst wird alle erreichen und für alle verständlich sein. Er ist – von außen gesehen und in den messbaren Kategorien der Soziologie – schon lange nicht mehr das verbindende Zentrum des Gemeindelebens, sondern eine Zielgruppenveranstaltung wie andere Veranstaltungen auch. Aber auch das gehört für mich zu der genannten Ambivalenz. Der Gottesdienst bleibt die substanzielle Ausdrucksform unserer Gemeinschaft. 

 

Die Weggemeinschaft der Befreiten

Mir ist bewusst, wie sehr wir eine Kirche sind, die in Bewegung ist. Sie befindet sich nicht in einem sicheren Hafen oder an einem festen Ort, sondern ist ihrem Wesen nach auf dem Weg. Auf dem Weg durch unwegsames Gelände, über Klippen, durch Wüsten und Dürren. Dass wir in einer solchen Situation oftmals stolpern oder sicheren Unterstand suchen und manche gewagt ins offene Feld vortreten, ist normal. Das wir dabei auch scheitern können ebenso. AIs die Christen sich zu Beginn ihrer Geschichte ein Selbstverständnis aneignen mussten, kamen sie zu dem Schluss: Es ist eine Existenz auf dem Weg. Sie besteht darin, demjenigen zu folgen, der von sich gesagt hat: Ich bin der Weg. Wir befinden uns auf dem Weg und nicht am Ziel. Das heißt zweierlei: Wir sind nicht allein unterwegs, sondern immer mit Gott. Sonst wären unsere Fürbitten leere Floskeln. Wir glauben, dass Er uns Geleit gibt und unsere Hilfe ist. 

Und zum Zweiten: Es verbietet uns, sich einzurichten. Ein solches Verbot widerstrebt uns. Einrichten ist ein tief verwurzeltes Bedürfnis. Es vermittelt das Gefühl von Stabilität, und sei es auch nur vorläufig und für begrenzte Zeit. Wir erinnern uns an die berühmten Sätze aus dem Weihnachtsevangelium: „Und sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ (Lukas 2,7) Die erste Suche der Eltern, nachdem das Neugeborene den umhüllenden Raum des Mutterleibes verlassen hat, ist die Suche nach einem Raum. 

Dem Menschen wird ein Raum gegeben. „Topos“ steht dort. Das menschliche Leben beginnt mit dem Raum. Einer Ver-Ortung. In seiner Aussendungsrede an die Zwölf sagte Jesus (Mt 10,7-13 i.A.): „Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt es auch. Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken ... Wenn ihr aber in ein Haus geht, so grüßt es; und wenn es das Haus wert ist, kehre euer Friede dort ein.“ Wir sind, immer noch, eine sehr eingerichtete Kirche. Und auch eine Kirche des Zuviel. Bei jedem Blick auf die protestantischen Kirchen außerhalb unseres Landes müssen wir vollständig anders über unsere Kirche sprechen: Wir haben zu viel Geld, zu viele Gebäude, zu viele Strukturen, zu viele Gesetze, und haben mit all diesen Dingen zu viel Last. Bei dieser Einsicht wollte der Zukunftsprozess ansetzen. Zumindest ein bisschen. Dabei setzte dieser Prozess vor allem auf uns, als Beteiligte. Alle Eindrücke und unsere Fantasien für Weggemeinschaften auf noch nie begangenen Wegen sollten wir erzählen. Das geschah, doch weniger als gedacht. Wir sorgen uns, und das mit gutem Grund, den Ort, an dem wir uns eingerichtet haben, zu verlassen. Solange wir können, werden wir fest halten an dem, was uns und oftmals unseren Vorvätern und -müttern eine geistliche und räumliche Herberge war. Vielleicht, und ich sage es bewusst sehr selbstkritisch, müssen wir geduldiger sein, denn die Entwicklungen, sich auf den Weg zu machen, erkenne ich an fast jedem Ort, den ich besuche. „Je glücklicher einer ist, desto leichter kann er loslassen.“ schrieb Dorothee Sölle. Wir aber sind angestrengt und sehen Veränderungen eher als schmerzhaften Verlust und halten fest. Dennoch: Längst nicht immer in der frohen Bereitschaft und oft verbunden mit Zweifeln und Traurigkeit, es bewegt sich viel! Und darüber kann man sich freuen. Ich selbst gehöre meist zu den ungeduldigen Dränglern. Schneller, konsequenter, wirksamer, einfacher sollte es gehen. Warum soll ich freiwillig aufgeben, was mir nicht nur Gewohnheit, sondern täglicher Gebrauch, geliebter Ort gewesen ist?

Unterwegs und auf dem Weg. Doch gleichzeitig zeigte sich schon früh das Bedürfnis sich einzurichten, sich zu organisieren und Ordnungen zu geben. In Jerusalem gab sich die junge Christenheit eine erste Form als Gemeinschaft einer Kerngemeinde. „Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern“ (Apg 2,46). Die Prägung war judenchristlich, die Ausrichtung homogen, die Wirkung nach innen gerichtet und auf Eintracht bedacht.

Aber der Weg war schon von Beginn an nicht einheitlich. Von einer anderen Gemeinde, nämlich der in Antiochia, heißt es: „Es waren aber einige unter ihnen, die kamen nach Antiochia und redeten auch zu den Griechen und predigten das Evangelium vom Herrn Jesus. Und die Hand des Herrn war mit ihnen und eine große Zahl wurde gläubig und bekehrte sich zum Herrn“ (Apg

11,21). Hier gehört von Beginn an die Öffnung zum Selbstverständnis. Das Evangelium wird für alle Welt erschlossen, auch wenn damit Einflüsse eindringen, von denen sich erst zeigen wird, wie sie sich integrieren lassen.

Die Kirche war von ihrem Beginn an auf einem Weg zwischen einer Tendenz zur Ordnung und der Offenheit für Überraschungen. „Ich habe Euch etwas Sensationelles mitzuteilen!“ berichtet

Philippus den Aposteln. „Ich habe den ersten Nichtjuden getauft, einen Kämmerer aus

Äthiopien!“ - Man wird pikiert gewesen sein, Petrus etwa: „Wie bitte? Ein Ausländer? Ein Nichtjude? Ein Kastrierter, der kein richtiger Mann ist?“ - „Warum nicht?“ mag Philippus entgegnet haben. Vielleicht ist das unser Weg als Kirche: Zuhören. Antworten, wenn man gefragt wird. Lachen. Taufen. Verändern. Und fröhlich die Straße weiterziehen. Oft stand das

Eigene, das Verbindliche und Verpflichtende dem offenen Verständnis der Auf-dem-WegBefindlichen im Weg. 

Papst Benedikt hatte die Idee geäußert, dass die Kirche wie der Tempel in Jerusalem einen

„Vorhof der Heiden" mit einschließen solle. „Der Aufruf, den ,Hof der Heiden‘ innerhalb des

Tempels der Kirche zu öffnen, die Suchenden zu integrieren, war ein positiver Schritt“, sagt sein

 

 
 


Nachfolger Franziskus. „Heute müssen wir jedoch noch weiter gehen. Es ist etwas mit der ganzen Tempelform der Kirche geschehen, und wir dürfen das nicht ignorieren. Jesus steht vor der Tür und klopft an. Aber heute klopft Jesus von innen. Er will hinausgehen, und wir müssen ihm folgen. Wir müssen über unsere derzeitigen mentalen und institutionellen Grenzen hinausgehen.“  

 

Die Gegenwartsanalyse zeigt, dass wir das Weg-Motiv vermutlich konsequenter verstehen müssen. „Wir dürfen uns nicht davor fürchten, dass einige Formen der Kirche im Sterben liegen: ,Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es ein einzelnes Korn. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht‘ (Joh 12,24) ... Das Leben der Kirche besteht darin, am Paradox von Ostern teilzuhaben: dem Moment der Selbsthingabe und Selbsttranszendenz, der Verwandlung des Todes in Auferstehung und neues Leben ... Zur Ostererfahrung der

entstehenden Kirche gehört die Überraschung, dass die Auferstehung keine Wiederbelebung der Vergangenheit ist, sondern eine radikale Umgestaltung.“ (Tomas Halik in „Christ in der Gegenwart“). Und wir müssen uns einlassen darauf, dass, wie uns schon das Neue Testament lehrt, es von Beginn an eine Fülle von Konflikten und Parteiungen gegeben hat, auch Fehlschlüsse und jede Menge Rechthaberei. Da unterscheidet sich die Geschichte nicht von unserer heutigen Lage. Im Vergleich zur frühen Kirche sind wir vielleicht sogar ein friedlicherer Ort geworden. Doch damals blieb diese Nachfolgegemeinschaft eine attraktive Größe innerhalb der Gesellschaften, in denen sie wirkte. 

Die Erkenntnis setzt sich durch, dass wir mit dem Fischen im Flachwasser nicht mehr weiterkommen. Wir haben es vielfach versucht. Wir haben Veränderungen versucht. Aber wir haben die Notwendigkeit von Veränderung doch bisher weitgehend innerhalb des geliebten und geordneten Systems gedacht. „Systeme stabilisieren sich selbst. Sie sehen nur das, was sie kennen. Sie reproduzieren nur das, was sie brauchen. Sie finden das gut, was sie selber legitimiert. Das ist eine äußerst praktische Eigenschaft. Aber für Veränderung ist sie abträglich.“ So Jan-Christoph Horn auf Kirchenentwicklung.de. Leicht wird das Auf-dem-Weg-Sein so verstanden, dass es die vertrauten Wege sind, die immer wieder gegangen werden. Dieselben

Runden. Die Rückkehr an immer denselben Punkt. Aber Jesus spricht zu Simon Petrus (Lk 5,4): „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus.“ Wir müssen in der Tiefe fischen. Wir sind mit vielen Versuchen unterwegs. Die unterschiedlichen Zukunftsprozesse gehören dazu. Darin erkennen wir oft auch, wie wir uns in unseren Planungen und Vorgaben täuschen. Wir haben Vorstellungen über Beteiligungen und denken, alle sind hoch motiviert und haben genügend Ressourcen, eigene neue Planungen voranzubringen. Aber das ist nicht überall so. Wir sind auch erschöpft von Ideen, die scheiterten, enttäuscht über Dinge, von denen wir meinten, sie seien gut, die aber nicht aufgenommen wurden. Die Sehnsucht nach dem einem richtungsweisenden Wort ist in solchen Phasen groß. In den gestrigen Gesprächen mit den Synodalgruppen wurde die Erwartungshaltung an mich deutlich. Ich danke sehr für den offenen Austausch und Ihre Erwartungen an meine Rolle. 

Tomas Halik: „Vielen ,Menschenfischern‘ geht es heute ähnlich wie den Fischern am Ufer des

Sees Genezareth, als sie Jesus zum ersten Mal begegneten: ,Wir haben leere Hände und leere Netze, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen.‘ Jesus sagt uns dasselbe, was er den erschöpften Fischern gesagt hat: Versucht es noch einmal, geht in die Tiefe. Ein neuer

Versuch bedeutet nicht, alte Fehler zu wiederholen. Es erfordert Ausdauer und Mut, das seichte

Wasser zu verlassen und in die Tiefe zu gehen.“ (Tomas Halik a.a.O.)

Ich bin mir nicht sicher, ob wir in die Tiefe gehen. Häufig treiben wir uns im Flachwasser herum und sind überrascht über Untiefen. Dennoch scheint es dort am ungefährlichsten zu sein. Wir sind risikoscheu. Keiner will sich in der Tiefe in Gefahr begeben. Alle basteln an ihren Diensten, Werken, Prinzipien und Organisationsformen weiter, suchen sich kostspielige äußere Hilfen, oder versetzen sie mit neuen Ideen. „Die Kirche der Zukunft wird kleiner, bescheidener, machtloser, dafür aber markanter, persönlicher, entschiedener, geist- und kraftvoller sein.“ (Bernhard Meuser in der „Tagespost“ vom 17. März 2022). Solche Sätze kenne ich seit dreißig Jahren und ich habe diesen Prozess erlebt, so wie viele Ältere hier in der Synode. Wir reagieren nur völlig unterschiedlich darauf. Menschen in den östlichen Bundesländern anders als in den westlichen, ältere Menschen anders als junge. Bei meinen regelmäßigen Treffen mit den Vikarinnen erkannte ich: Eine Angst um die Zukunft der Kirche gibt es bei ihnen kaum. Gewiss, um das eigene Leben und die Berufung in den Dienst als Pastorin oder Pastor schon. Aber die grundsätzliche Umkehrung des Bestehenden ist für sie schon Geschichte. Der fortlaufende Wandel geschieht, unaufhörlich. So sucht diese Generation ihren Lebens,- Glaubens- und Handlungsort in der Kirche gelassener im fortwährenden Wandel. Dabei gehen sie auch anders mit den Restspuren traditioneller Kirchlichkeit um, von denen wir älteren Kolleg*innen oft glaubten, sie seien der wichtigste Hort, der gerettet werden müsse. 

 

Das Volk Gottes

Unsere Kirche steht in einer Umbruchphase, und das trifft alle Bereiche. Von der dominierenden Sozialform christlicher Gemeinde als Parochie bis zu den Fachexpertinnen, die wir in verschiedensten Einrichtungen vorhalten, von der kirchlichen Jugendarbeit bis zu unseren

Diensten in der internationalen Ökumene und der Art-und-Weise, wie wir uns verwalten wollen. Die wichtige und entlastende Einsicht von Martin Luther: „Wir sind es doch nicht, die da könnten die Kirche erhalten, unsre Vorfahren sind es auch nicht gewesen, Unser Nachkommen werden es auch nicht sein. Sondern der ists gewesen, ist es noch, wird’s sein, der da spricht: Ich bin bei euch bis zur Welt ende.“ (WA 50, 476, 31-35)

Dieser Satz ist wahr. Und ich erkenne umso deutlicher, wie wir festhalten an unserem

Machbarkeitswahn und damit auch an den Machtstrukturen innerhalb der Kirche. Dabei sind die

Dinge längst im Fluss. Derzeit ist, nur ein Beispiel, die gesamte jugendverbandliche Landschaft in

Niedersachsen im Wandel. Die Landesregierung möchte bis Herbst 2024 das

Jugendförderungsgesetz novellieren. Das Ministerium legt, aus gutem Grund, großen Wert auf die Beteiligung junger Menschen. Wir sind weit vorne mit dabei. So haben wir mit den Jugendsynoden und der neuen Kirchenverfassung die Beteiligung junger Menschen schon deutlich länger in den Fokus gebracht. Aber selbstverständlich sind das nur Etappen auf dem Weg einer jugendgerechten Kirche. 

Ein Wesensmerkmal von Jugendverbänden ist die selbstbestimmte Gestaltung von Inhalten,

Ressourcen und Organisation. Nach einem Gespräch mit unseren berufenen Synodalen der Landesjugendkammer ist deutlich geworden, dass wir an diesem Punkt weitere Schritte gehen können. Es braucht Überlassung von Verantwortung. Das bedeutet Mitbestimmung und

Mitentscheidung. Was hier geschieht, ist auch eine Richtung in vielen Bereichen unserer Kirche. Nach außen proklamieren wir das Prinzip der Subsidiarität. Doch binnenkirchlich müssen wir dieses Bild neu justieren. Alles verbleibt auf der Ebene der verantwortlich Handelnden. Nur die

Dinge, die dort nicht leistbar sind, werden nach oben delegiert. Das schmerzhafteste bleibt der Machtverlust in den oberen Etagen. Beim Blick auf die Einrichtungen der Jugendkirchen vor 15 Jahren empfand ich die Landeskirchen innerhalb der EKD fast alle halbherzig: Warum übertrug keine Landeskirche vollständig eine Kirche den jungen Erwachsenen, inklusive einer Sockelfinanzierung für ihre Bewirtschaftung? Befürchten wir Machtverlust?

Macht manifestiert sich nicht nur organisationslogisch. Sie liegt auch darin, wer in welchem Maß die Inhalte definiert und an ihrer Gestalt beteiligt ist. Wir entdecken mehr und mehr, wie Theologie, wie geistliches Leben heute kontextuell betrieben wird und auch ganz andere Formen annehmen kann. Theologische Einsichten werden auf Lebensrelevanz befragt. Was taugen diese Sätze für mein Leben? Sind sie Trost und schenken sie mir Hoffnung, sind sie Anfechtung und helfen mir damit resilient zu werden? Sind sie geheimnisvoll und führen mich damit in unbekannte innere Räume? Wo findet Theologie statt, wer treibt Theologie und wem wird sie zugetraut? Einhellig ist die Beobachtung, dass hierfür nicht nur der akademische Raum oder die kirchlichen Amtsträger*innen in Frage kommen. Jeder und jede kann daran teilhaben. Es erscheint wie eine Verflüssigung der christlichen Botschaft in verschiedene Teilbereiche der

Gesellschaft hinein, in das Bildungswesen, das Gesundheitssystem oder ethisch-rechtliche

Debatten. Dies führt dazu, dass das christliche »Grundprogramm« in andere Räume einfließt. Einige werden sagen, dass sie sich damit gleichsam verdünnt, andere betonen, dass sie auf diese Weise auch im säkularen Bereich gerade präsent und wirksam wird. 

Der Wunsch nach mehr eigener Theologieproduktivität ist eine Freiheit, die uns zur eigenständigen Auseinandersetzung und Aneignung führt. In der Forschung wird dafür zwischen akademischer und „ordinary theology“ unterschieden. Die Deutung von Theologie ist jedenfalls nicht mehr nur unter den akademisch Gebildeten oder den kirchlichen Autoritäten verortet.

Kommunikation des Evangeliums wird durch ihren aktiven deutenden Gebrauch folgenreich.

Daraus könnte sich ergeben, dass sich zukünftig Theologie und kirchliches Handeln partizipativer verstehen und ausrichten werden. 

Ein Feld, auf dem sich gegen den Trend eine erfreuliche Dynamik entwickelt, ist die Arbeit der Lektor*innen und Prädikant*innen. Ca. 500 Prädikant*innen und 1.400 Lektor*innen sind derzeit in unserer Landeskirche beauftragt.[1] Auch immer mehr junge Menschen gehen auf diese anspruchsvolle Ausbildung zu, an den U-25-Lektorenkursen haben bisher 61 Absolvent*innen teilgenommen. Neben den etablierten Ausbildungsgängen gibt es neue Formate wie den erstmals durchgeführten interkulturellen Lektorenkurs für Teilnehmende verschiedener

Herkunftsbiografien. Weiterhin sind durch die Etablierung der Sprengelbeauftragten für den Lektoren- und Prädikantendienst zu den zentralen Modulen auch regionale Kursangebote hinzugetreten. Dadurch ist sowohl die Ausbildungskapazität als auch die Intensität deutlich gestiegen. Die Lektorenkurse wurden um ein fünftes Wochenende verlängert, so dass sich die Teilnehmenden tiefer in die Aneignung von Lesepredigten einüben können. Darüber hinaus gibt es für die Kursabsolvent*innen weitergehende Vertiefungsmöglichkeiten.

Nach den Pandemiejahren steigen die Anmeldezahlen. Das Interesse am ehrenamtlichen

Verkündigungsdienst nimmt zu. Dabei geht es nicht um bloße Anwendung von Fertigkeiten. Den

Teilnehmenden ist die Auseinandersetzung mit theologischen Themen und die persönliche Durchdringung wichtig. Prädikant*innen entwickeln zunehmend einen eigenen Predigtstil und probieren sich aus. Es zeigen sich dabei hohe Begabungen, die sich in oftmals kreativen Predigteinfällen äußern. Eine angemessene Wertschätzung, die sich auch in mehr als den üblichen 20 € ausdrücken dürfte, wäre durchaus wünschenswert.

In den Kursen belebt die Mischung den Austausch. Verschiedene Generationen bringen wechselseitig neue Perspektiven ins Spiel und führen zu bereichernden Wahrnehmungen. Ein eigener U-35-Prädikantenkurs, wie er von der Synode angefragt war, erscheint derzeit nicht sinnvoll zu sein. In dieser Lebensphase gehen Berufseinstieg bzw. -aufstieg, Familiengründung oder Hausbau vor. Dennoch sind derzeit 102 Lektor*innen auch aus dieser Altersgruppe in den Gemeinden tätig. Der Einsatz aller ehrenamtlichen Prediger*innen und die Zusammenarbeit mit den Hauptamtlichen gestaltet sich vor Ort sehr unterschiedlich und hängt wie überall vor allem von den jeweils handelnden Personen ab. Ein Highlight ist sicherlich der zum Pfingstfest geplante NDR-Radiogottesdienst aus der Stiftskirche des Stephansstifts, bei dem sich schon jetzt zeigt, wie

 

viel theologisch-liturgische Kompetenz und Kreativität in den Lektor*innen und Prädikant*innen steckt.

Diese Entwicklung zeigt, wie sehr theologische und gottesdienstliche Kompetenz geteilt werden kann und auch geteilt werden muss. Sie vervielfältigt sich damit im Sinn des allgemeinen Priestertums. Wird dies möglicherweise auch als Verlust empfunden werden, etwa auf Seiten der akademischen Theologie oder der Ordnungssysteme, die wir mit Verordnungen und Gesetzen ausdrücken? Möglicherweise. Wird die Sehnsucht vieler Gemeinden nach einer hauptamtlichen Versorgung dabei nicht ausreichend erfüllt werden? Möglicherweise. Aber vielleicht bilden sich Triebe, die in ungewohnte Richtung wachsen oder es zeigen sich Ableger, wo man sie nicht erwartet.

Dazu lohnt sich ein Blick in die jahrhundertealte Geschichte des jüdisch-christlichen

Theologietreibens. Im jüdischen Midrasch gibt bereits es eine lange Tradition des partizipativen, pluralen und unabgeschlossenen Umgangs mit Theologie. Für solche theologischen

Entdeckungsprozesse braucht es keine Vorbildung. Religion und die Rede vom Sinn wandert aus den Ordnungen der Institution aus und in die Vielfalt der Lebenswelten ein. Sie verzweigt sich, verflüssigt sich vielleicht an der einen Stelle und vervielfältigt sich an der anderen in neuer Form. Sollen wir das steuern und regeln? Sollen wir dafür Vorgaben machen und Richtlinien erlassen? Oder sollen wir dem Raum geben, was sich ereignen will? Ermöglichen, was sich als anfängliche Idee zeigt? Energien stärken, wo sie sich zeigen? 

Tomas Halik sagt: „Wir dürfen nicht mit dem Stolz und der Arroganz der Besitzer der Wahrheit auf andere zugehen. Die Wahrheit ist ein Buch, das noch keiner von uns bis zum Ende gelesen hat. Wir sind nicht Besitzer der Wahrheit, sondern Liebhaber der Wahrheit und Liebhaber des Einzigen, der sagen darf: Ich bin die Wahrheit.“ (a.a.O.)

 

Freiheit aus Gnade 

Aufgabe der Kirche ist, die Kommunikation des Evangeliums zu ermöglichen und zu fördern. Wir hatten dafür über Jahrhunderte klare Vorstellungen. Kommunikation des Evangeliums geschieht in der Predigt. Für die Predigt und die Sakramentsverwaltung braucht es das geistliche Amt. Für die Ämter und Dienste braucht es Ordnungen. Diese Ordnungen müssen erstellt und gesetzlich geregelt und sie müssen verwaltet werden. Es sollte überall gerecht und vergleichbar sein. Wir haben uns eine geregelte und regelbare Kirche angeeignet und alles unter dem Dach der

Ordnungen versammelt. Damit ist zugleich die Versuchung der Machbarkeit gekommen und die Organisation von eigenen Zielen und deren Erreichbarkeit. So wurde aus der Freiheit des

Evangeliums die Ordnung der Kirche. Aus der Rechtfertigung das Rechthaben und die Selbstrechtfertigung. Und für alle die Last des Gelingens. 

Rechtfertigung ernst zu nehmen, heißt zu verinnerlichen: Wir sind beschenkt. Rechtfertigung heißt Freiheit gewinnen. Wenn wir glauben, wir retten die Kirche, dann ist diese Haltung unser sklavisches Joch. Das ist, dass wir meinen, die Kirche retten zu müssen, und zwar in einer Gestalt, die wir selbst erfinden. Ist das nicht das Gesetz, vor dem Paulus uns warnt?

In Gal 5,1 heißt es: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit. Lass euch nicht erneut das Joch der

Knechtschaft auflegen.“ Die Freiheit hat die ersten Christengemeinden auf unterschiedliche

Wege geführt. Jeder der Gemeinden, an die Paulus schreibt, hat ihre eigene Gestalt, ihre eigene Umwelt, ihre eigenen Konflikte. Und sie bestehen aus Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Fähigkeiten.

Gemeinden müssen nicht zugleich nach innen verdichtend, nach außen eröffnend, kulturell hochwertig, spirituell tiefgründig, sozialpolitisch aktiv, nachhaltig, divers, diakonisch engagiert sozialraumbezogen und allen Milieus gleichermaßen zugewandt sein. Sie können es nicht. Sie werden daran zu Grunde gehen. 

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Ist es nicht an der Zeit, die Menschen in ihrer Individualität und religiösen Kompetenz, die Gemeinden in ihren Aufbrüchen, die Dienste und Einrichtungen in ihrer Kernkompetenz mehr machen zu lassen? Die Planungsprozesse der Kirchenkreise haben gezeigt, wieviel Innovation, Anpassung und Neuaufbruch auf dem Weg ist. 

Es werden, das ist gewiss, Gemeinden und Einrichtungen vergehen. Sie werden aufhören zu sein, weil keine Menschen mehr kommen und sie Dienste tun, die keiner mehr braucht. Lassen wir es geschehen und hängen die Zukunft der Kirche nicht an unsere Kraft und unseren Machbarkeitswahn.

Im Harz werden Buchen aufgeforstet. Ob das funktioniert, wird man erst in 60 Jahren sehen. An anderer Stelle überlässt man das Totholz sich selbst und wartet ab, welche Arten dann wieder auflaufen und sich als lebensfähig erweisen. Wir müssen nicht unsere Pläne und planvollen

Suchbewegungen aufgeben. Aber wir dürfen in Freiheit agieren. Welches Holz nachwächst? Welcher geistliche Weg uns mit Gott voran führt? Wir wissen es nicht. Wir bleiben verantwortlich weiterzugehen, mit Gott. Aber wir tun es im entlastenden Bewusstsein unserer Vorläufigkeit. Wir tun es im Feiern der Gottesgegenwart, die unser Grund ist. Wir tun es in der Freiheit, zu der uns Christus befreit.

 

Konkretionen

Wohin gehen wir?  Zuerst einmal sollten wir ehrlich unsere Wege nebeneinanderlegen. Es hat nicht den einen Zukunftsprozess gegeben, sondern seit vielen Jahrzehnten entwickelten und planten, bemühten und schrieben Menschen ihre Bilder der zukünftigen Kirche und veränderten die Kirche. Fast immer entstanden dabei zuvor schon im Kleinen die praktischen Neuigkeiten, die dann auf dem Papier zu der Landkarte für das Zukünftige wurden. Auch äußere Bedingungen, wie die Corona-Zeit oder Kriege veränderten das Leben innerhalb der Kirche und ihre Aufgaben und ihre Kommunikation (Digitalität, Rollenverschiebungen, Männer-Frauen, Haupt-Ehrenamt). Wir haben zurzeit eine Fülle von laufenden Prozessen, die, ich unterstelle es mal, alle der Freiheit dienen. Viele Menschen gehen versuchsweise auf neuen Wegen. Dabei geht es nicht immer um die Einsparung von Mitteln, sondern um die Frage: Wie wollen wir Menschen die Geschichte von Jesus Christus erzählen? Es sind verschiedene Zielgruppen dabei im Blick. Verwaltungsprozesse schauen auf etwas anderes als die „Welle“, die hauptberuflich Beschäftigte in den Blick nimmt. Der Zukunftsprozess verfolgt eine breite Beteiligung von kircheninternen und -externen Menschen. Zudem sind Einrichtungen wie das Haus kirchlicher Dienste und der Campus Loccum unterwegs. Ein besonderer Prozess, der uns alle schon seit ein, zwei Jahren beschäftigt, sind die Planungsprozesse der Kirchenkreise für 2023-2028. Dafür gab es binnenkirchlich eine breite Beteiligung, weil die Planungen in allen Kirchenvorständen in unterschiedlicher Konkretionen aufgetaucht sind. Oberkirchenrätin Elke Schölper, die diese Texte am intensivsten ausgewertet hat, zeigt auf, dass in allen Kirchenkreisen das Bild einer Kirche sowohl in ihren Strukturen als auch in der Gestaltung kirchlichen Lebens deutlich fluider wird.[2] Alle wollen, dass Kirche auch zukünftig attraktiv bleibt. Manche Kirchenkreise haben die Entwicklung zu mehr regionaler Kooperation und zur Ausbildung von profilierten kirchlichen Orten schon sehr lange verfolgt. Sie treten nun in eine neue Phase der regionalen Zuordnungen ein oder wenden sich von den Strukturfragen nun den Fragen der Sozialraumorientierung, der erweiterten Milieuorientierung und dem Neuaufbau von Formen kirchlichen Lebens zu. Andere Kirchenkreise kommen erst jetzt dazu, Kirche über die parochialen Grenzen hinaus zu denken und zu gestalten. Einige wenige Kirchenkreise sehen die Notwendigkeit von grundlegenden Veränderungen erst für die Jahre 2029 auf sich zukommen. Sie denken vorläufig noch im Bestand. Für die angenommene Fluidität spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, die sich gegenseitig verstärken: Der Blick über die

 

Grenzen der Parochien und Kirchenkreise öffnet Lernfelder. Das gleiche gilt für die systemrelevante Einbindung von Ehrenamtlichen in die Gestaltung des kirchlichen Auftrags in allen Arbeitsfeldern. Die Sozialraumorientierung und multi- und interprofessionelle Teams eröffnen zudem neue Denk- und Handlungshorizonte. Die Leitungsebenen von

Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und auch der Landeskirche sind durch diese Entwicklung herausgefordert. Die Leitungsaufgabe wird zunehmend komplex. Sie scheint zu überfordern. Ein hoher Kommunikationsaufwand ist notwendig. 

Als das Kolleg vor wenigen Jahren die Reformvorhaben der einzelnen Abteilungen einmal synchronisierte, zum ersten Mal überhaupt, zeigte sich, dass eine Zusammenführung der Mittel oder eine zentrale Steuerung dieser völlig verschiedenen Anstrengungen unmöglich erscheint. Allerdings sollten alle Reformvorhaben stärker in ihrem Auftrag, ihren Kosten und ihren

Ergebnissen synchronisiert werden. Sie sollten systematischer auf ihren Dubletten sowie ihren Personal- und Materialeinsatz gesichtet werden. Eine große Transparenz ist gefordert. Die notwendige Synchronisation und Koordination mit Festlegung der Zielrichtungen werden uns - vielleicht schon im November - die Übersicht liefern, um in sinnvoller Weise einen Gesamtüberblick über den Zukunftsprozess zu bekommen.  

 

Merkwürdigkeiten

Eigentlich wollte ich über konkrete Maßnahmen sprechen. Aber das passt nun nicht. Deshalb nur drei Merkwürdigkeiten, die jede*r spielend ergänzen kann. 

  1. Wenn die Schulstiftung eine Turnhalle baut, kann sie nicht den Abteilungsleiter der Abteilung 8, Immobilienwirtschaft, fragen. Eben so wenig kann das die Bischofskanzlei, wenn sie Photovoltaik auf das Dach installieren möchte. Warum nicht? Weil wir drei Bauverwaltungen in unserer Landeskirche haben. Merkwürdig, oder?
  2. Wenn man zu spät kommt, dann lautet die glaubwürdigste Entschuldigung: Ich war mit dem Zug unterwegs. Die Deutsche Bahn taugt fast immer für diese Ausrede, denn sie hat im vergangenen Jahr sogar einen neuen Rekord aufgestellt, nur 65 % der Züge kamen pünktlich. Aber so bleibt auch während der verlängerten Fahrtzeit die Möglichkeit, ganz in Ruhe sich mit den Reisekostenabrechnungen unserer Landeskirche zu beschäftigen, denn die haben wir, trotz eines Jahrzehntes der Bitten um Beschleunigung bis heute nicht digital hinbekommen. Merkwürdig, oder?  
  3. Dass ich immer sehr skeptisch auf den ökologischen Fußabdruck unserer Landeskirche schaue, wissen alle. Fahrrad fahren, zu Fuß gehen, Elektroauto nutzen und Bahnfahren, für jede*n von uns selbstverständlich. Inzwischen ist es eine DNA unserer Kirche mit der Überzeugung: Wir wollen große Schritte nach vorne gehen. Zweimal im Jahr treffen wir uns deshalb im Henriettenstift zur Landessynode und lassen unsere Köpfe rauchen. Und wenn alle Sonnen hier im Saal strahlen, sind es knapp dreihundert Glühbirnen, die uns warm werden lassen. Bei einem Verbrauch von 60 Watt schaffen diese Sonnen etwas mehr als die Hälfte des Verbrauches, den ich in meiner Dienstwohnung in der Haarstraße jährlich habe. Erst nach 12 Jahren fällt es mir auf. Merkwürdig, oder? 

 

Halleluja

Ein Kyrie

Das Ende beginnt nicht mit einem Halleluja, sondern zuerst mit einem Kyrie. Ich bin in der

Ukraine in Odessa gewesen und habe dort Ende März die Deutsche Evangelisch-Lutherische

Kirche in der Ukraine (DELKU) besucht. Empfangen und begleitet wurden wir drei Besucher,

Frank Hofmann und Norbert Denecke aus der VELKD und dem DNK und ich durch Pastor Alexander Goos. Dabei habe ich im Dorf Petrodolinske, eine Autostunde von Odessa entfernt,

Kinder und Frauen getroffen, die aus dem Kriegsgebiet 300 Kilometer entfernt geflohen waren.

Ihr Dorf war neun Monate von der russischen Armee besetzt. Wir saßen in einem kleinen

Kirchenraum den geflohenen Frauen und Kindern gegenüber und hörten ihre Geschichten von

Artilleriegeschossen und vielen Wochen der Angst. Darunter auch Nina Knutas, die aus dem Dorf Smiivka kam, im Gebiet von Cherson. Als wir uns verabschiedeten, schenkte sie mir einen gehäkelten Hund, der in der Ukraine gefertigt wird und ein Minensuchhund sein soll. Vor wenigen Tagen fragte ich Alexander Goos, wie es ihr geht. Er schrieb vor vier Tagen: „Sie war jetzt bei uns wieder für 5 Tage wegen der Synode und dem Seminar für

Gemeinderatsvorsitzende. Und heute ist sie wieder mit humanitärer Hilfe von uns zu ihrer

Gemeinde gefahren. Seit Anfang April sind ihre Kinder und Enkel wieder zurückgekehrt in unser Dorf Petrodolinske, da die Gefährdung an der Frontlinie zu groß ist. Am 28. Mai wird sie wieder zu uns zurückkehren zu ihren Kindern, weil ihre Enkelin konfirmiert wird.“ 

Wir rufen: Herr erbarme Dich und bleib bei den Menschen, die unter der Geißel des Krieges leiden.  

 

Ruheständler

In meiner Geschäftspost bekomme ich über alle Personalfälle der Pastorinnen und Pastoren Verfügungen. Darin wird zum Beispiel mitgeteilt, auf welche Stelle ein Pastor wechselt, ob eine

Pastorin in den Ruhestand geht, ob Elternzeit gewährt oder der Stellenumfang ausgeweitet wird. Immer häufiger tauchen in diesen Mitteilungen auch die Namen von Ruhestandspastorinnen und

-pastoren auf, weil sie für mehrere Wochen oder Monate eine Stellenvertretung in einer Kirchengemeinde übernehmen. Im Jahr 2014 hat die Landeskirche das Programm „Gastdienste im Ruhestand“ aufgelegt: Pastorinnen und Pastoren im Ruhestand übernehmen für einen Zeitraum zwischen vier Wochen und einem halben Jahr die Pfarramtsvertretung in einer

Gemeinde. Koordiniert wird das von der Personalabteilung und dem „Chefgastdienstler“

Superintendent i.R. Volkmar Keil. Sie ermöglichen es damit Kolleginnen und Kollegen im aktiven

Dienst, ein Studiensemester, ein Sabbatical oder eine Reha wahrzunehmen. Sie erleichtern vor

Ort das Durchstehen von pastoralen Elternzeiten oder Langzeiterkrankungen, sie helfen

Gemeinden, Vakanzzeiten gut zu gestalten. Dabei bereichern die Ruheständler*innen die Kirchenkreises nicht nur mit ihrer Arbeitskraft, sondern auch mit ihrer Erfahrung und besonders mit ihrer ungebrochenen guten Laune und ihrer Lust an Kirche. 2014 sind wir mit 18

Gastdiensten an den Start gegangen, 2020 waren es bereits 74, 2022 98 und im Mai diesen Jahres läuft von Januar an gezählt der 69. Gastdienst. Zusammengerechnet entsprechen die von ihnen absolvierten Dienstwochen pro Jahr der pastoralen Jahresarbeit eines ganzen kleinen Kirchenkreises. Diese Vakanzvertretungen sind Gold wert. 

Die Namen dieser Kolleg*innen im Ruhestand lese ich nun fast täglich. Monatlich lese ich in der Geburtstagsliste weitere Namen der Ruheständler, die sich im achten, neunten oder sogar zehnten Lebensjahrzehnt befinden und denen ich Karten schreibe. Einer, der mir besonders ans Herz gewachsen ist, ist Hartmut Badenhop. 92 Jahre alt. Den neunzigsten Geburtstag haben wir noch in der Neustädter Hof- und Stadtkirche zusammen gefeiert. Gelegentlich besuche ich ihn in Isernhagen in seiner kleinen Wohnung. Als ehemaliger Landessuperintendent von Hannover hat er viel zu erzählen. Er nimmt mich in einer Weise in die Geschichte dieser Kirche hinein, die ich erst seit 12 Jahren kenne, so als wäre es schon immer meine Kirche gewesen. Aber nicht nur das. Er ist ein kritischer, wacher Geist mit klaren Positionen und lockt in den Dialog über theologische und politische Fragen. Von den Gesprächen mit ihm zehre ich lange. Er ist übrigens der Einzige, den ich kenne, der zum ersten evangelischen Kirchentag 1948 in Hannover Erinnerungen hat. Ihm und allen Ruheständler*innen, die mit ihren Gaben über Jahrzehnte unserer Kirche treu waren und leidenschaftlich gewirkt haben und immer noch wirken, danke ich von Herzen. Es sind die Riesen, auf deren Schultern wir stehen. Halleluja. 

 

Die treuen Beterinnen

„Und es begab sich, dass er an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.“ (Lk 11,1). Ein Vers aus dem Lukasevangelium zum Gebet. Darauf antwortet Jesus mit dem Vater Unser. Mit dem Gottesdienst habe ich begonnen, mit den treuen Betern und Beterinnen höre ich auf. In der Stiftskirche in Loccum findet jeden Werktagabend um 18.00 Uhr ein Stundengebet in klösterlicher Tradition statt. Oft sind es nur wenige Besucher, manchmal kommen Gäste aus der

Akademie oder dem RPI, dann ist der Chorraum voll. Es braucht jemanden, der durch dieses

Gebet führt. Sehr oft ist es in Loccum ein 93-jähriger Mann, Eberhard Sievers, ehemals ein Referent am Religionspädagogischen Institut. Er begrüßt, stimmt die Lieder an, liest den Psalm und segnet. Er hält treu die Kontinuität, damit diese Gebetstradition nicht abbricht. 

Unsere Welt wird durch das Gebet zusammengehalten, daran glaube ich fest. Und in vielen

Kirchengemeinden wird auch nach 15 Monaten immer noch regelmäßig für den Frieden in der Ukraine gebetet. Danke an alle, die nicht aufhören, für ein Ende der Gewalt Gott anzurufen.  In Gorleben wird seit mehr als 34 Jahren jeden Sonntag um 14.00 Uhr in einem Waldstück gebetet und gesungen, das Gorlebener Gebet. Veronika Hüning schreibt dazu im Netz: „Mein Mann, der mich bei meinen Gorlebener Gebeten meistens musikalisch begleitet, fragt: "Glaubt ihr wirklich, dass euer Beten etwas nützt? Dass Gott eingreift und hilft, alle Übel zu überwinden?" Ich glaube nicht, dass Gott uns die Friedensarbeit abnimmt. Ich glaube aber, dass er Menschen zur Einsicht und zur Umkehr bewegen kann. Sodass immer mehr Menschen sagen: In der Gewalt liegt kein Heil - weder in der Gewalt gegen die Natur noch gegen Mitmenschen und ganze Völker! "Beten nimmt nicht die Last, aber stärkt die Schultern" heißt es. Das glaube ich.“ (https://www.gorlebener-gebet.de/).

 

 

 

 

[1] Lt. Statistik des Lektoren- und Prädikantendienstes der Ev. luth. Landeskirche Hannovers von 2020. 

[2] Vgl. Aktenstück 34D