Menschen, am Wegesrand entsorgt
Sie marschierten bis zur vollkommenen körperlichen Erschöpfung, wer nicht mehr konnte, wurde vor den Augen der anderen erschossen. Einige wurden bei lebendigem Leib verbrannt, andere von Jagdbombern angegriffen, viele in Massengräbern beigesetzt. Nur wenige von ihnen konnten fliehen, suchten Schutz bei der Harzer Bevölkerung und selbst dann war nicht klar, ob die Einheimischen sie versteckten oder an die Nazis verrieten.
Die Todesmärsche in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges mögen aus heutiger Sicht zunächst unvorstellbar sein und doch ist es wichtig, ihrer zahllosen Opfer zu gedenken, damit sich Geschichte nicht wiederholt. Die Arbeitsgemeinschaft Spurensuche im Harz, der auch der Historiker und Geologe Firouz Vladi angehörte, trug zahlreiche Augenzeugenberichte und Fakten zusammen, um diese du dunkle Vergangenheit im Harz überhaupt zu dokumentieren.
Am vergangenen Dienstag sprach Vladi im Rahmen der Ausstellung „Martin Luther und die Juden“ in St. Salvatoris in Zellerfeld über die Todesmärsche im Harz, von denen einer sogar direkt in die Kirche führte. Am 5. April 1945 nämlich übernachteten dort 450 KZ-Häftlinge auf ihrem Marsch vom KZ Gandersheim über Bad Grund und Braunlage bis nach Wernigerode.
„Ich bin erschüttert, dass Menschen so mit Menschen umgehen können“, sagte Pastor André Dittmann in seiner Begrüßung und meinte damit nicht nur die unmenschlichen Räumungen frontnaher Konzentrationslager durch die Nationalsozialisten, sondern ebenso die Reaktion der Zellerfelder auf die Häftlinge. Unter denen grassierte nämlich mangels menschenwürdiger Ernährung und Hundefutter als einzigem Ersatz der Durchfall und da sie die Kirche zum Toilettengang nur einzeln und unter strengster Bewachung verlassen durften, mussten sie ihre Notdurft irgendwann im Gotteshaus verrichten. Die Schändung des Sakralbaus sorgte bei den Einheimischen für weit mehr Empörung als die Todesmärsche, die die Mehrheit dank nationalsozialistischer Propaganda als gegeben hinnahmen.
Die Schändung wurde mit Racheakten der SS-Leute und Erschießungen geahndet, von den 450 Häftlingen erreichten schließlich nur etwa 150 ihr Ziel. „Sie sind gestorben, indem normale Deutsche sich dieser Menschen am Wegesrand entledigten“, machte Vladi deutlich. Nicht nur in Zellerfeld, sondern bei zahlreichen Todesmärschen im gesamten Harz. Ein Massengrab bei Tettenborn, namenlose Opfer eines Jagdbomberangriffs bei Lasfelde oder Augenzeugenberichte einiger Häftlinge, die auf ihrem Marsch die Bombardierung Halberstadts durch die Alliierten beobachteten, belegen diese Schrecken.
Die Häftlinge, so erläuterte Vladi, waren in diesen Fällen nicht überwiegend Juden, weshalb das Thema nur zum Teil in den Rahmen der Ausstellung passe. Die meisten dieser Menschen seien politische Gefangene gewesen, also solche, „die sich nicht unterdrücken lassen wollten.“ Ihre Bewacher wiederum junge Männer, für die die Front und der Kampf gegen die näher rückenden Alliierten die Alternative gewesen wäre. Allein geschürter Hass und gezielte Propaganda gegen eine Minderheit hatten also dafür gesorgt, dass Menschen zu solchen Gräueltaten fähig waren bzw. solches Leid erdulden mussten.
„Auf den Straßen im Harz sah es damals nicht anders aus als heute zwischen Aleppo und Damaskus“, polemisierte Vladi. Auch zu anderen Kriegsregionen der Welt zog er Parallelen und stellte die Frage, ob wir aus der Vergangenheit gelernt haben. Zu weit von uns schieben sollten wir Deutschen die Verantwortung jedenfalls nicht, sagte er, immerhin seien es in all diesen Kriegen auch deutsche Waffen, mit denen Menschen getötet werden und als einer der größten Waffenexporteure der Welt profitieren wir wirtschaftlich von jedem einzelnen dieser Konflikte.
Der Abend endete in stillem Gedenken an die Opfer und mit einem Gebet Dittmanns mit Worten der Hoffnung, dass wir eben doch aus der Geschichte lernen.
Die Ausstellung „Ertragen können wir sie nicht – Martin Luther und die Juden“ ist noch bis zum 29. Juli täglich von 15 bis 17 Uhr in der St. Salvatoris-Kirche in Zellerfeld zu sehen, jeweils mittwochs um 17 Uhr werden öffentliche Führungen angeboten. Zum nächsten Vortrag wird am Donnerstag, 28. Juli, um 17 Uhr eingeladen, dann referiert Rabbiner Dr. Gabor Lengyel zum Thema „Christen und Juden – Eine Verhältnisbestimmung“.