Wir sollten so einladend wie möglich sein

Nachricht Kirchenkreis, 21. Januar 2022

Interview mit Bischof Ralf Meister

Landesbischof Ralf Meister. Foto: Christian Dolle

Die Fragen stellte die Öffentlichkeitsbeauftragte des KK Harzer Land Mareike Spillner.

Januar 2022

 

1. Die evangelische Kirche erlebt, nicht nur im Harzer Land, einen starken Mitgliederschwund und muss in den nächsten Jahren massiv sparen. Wie kann Kirche vor Ort präsent sein?

Die Kirchengemeinden im Oberharz gehen bereits sehr gute Wege: Sie stärken die Zusammenarbeit wie beim gemeinsamen Kirchenbüro oder in der Konfirmandenarbeit, stimmen ihre Angebote gezielt auf die Bedürfnisse der Menschen ab, die in den Gemeinden leben, entwickeln zusammen neue Gottesdienstformate und beraten über den Fortbestand von Gebäuden – um nur einige Beispiele zu nennen. Und gleichzeitig haben sie auch den Mut, Dinge sein zu lassen, denn nur so ist Raum da, um auch mit weniger Ressourcen Neues möglich zu machen.

 

2. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Chancen des Zukunftsprozesses?

Die Chancen sehe ich darin, dass es die Möglichkeit gibt, auf vielen Ebenen nach ganz konkreten kirchlichen Zukunftsperspektiven zu suchen. Kirchengemeinden, Kirchenkreise, Einrichtungen – alle können ihre Ideen einbringen, wie künftig kirchliche Arbeit am besten gestaltet werden kann. Es geht darum, dass viele unterschiedliche Ideen auf den Tisch kommen, dass sich unterschiedliche Akteurinnen und Akteure auch über Kirchenkreisgrenzen hinweg miteinander vernetzen und austauschen. Dabei ist mir wichtig, dass bei allen nötigen Rahmenbedingungen auch bestehende Verfahren und Ordnungen überprüft werden, die das Miteinander des kirchlichen Lebens vor Ort erschweren, verzögern oder verhindern. Nur so viele Gesetze wie unbedingt nötig und so viel Freiheit wie möglich. Am Ende wird die Landessynode aus der Vielzahl an Möglichkeiten eine Linie herausfiltern, die möglichst gute Rahmenbedingungen für die kirchliche Arbeit vor Ort sicherstellt – und zwar deutlich über das Jahr 2030 hinaus.

 

 

3. Wie kann Kirche "attraktiv bleiben", auch wenn es nicht mehr an jedem Sonntag in jedem Ort einen Gottesdienst gibt?

Bei allen Veränderungsprozessen müssen wir uns als Kirche immer fragen: Was dient den Menschen? Wie können sie in Kontakt mit dem Evangelium kommen? Was ist notwendig, damit wir unserer Verantwortung in der Nächstenliebe im öffentlichen Raum gerecht werden können? Da müssen wir als Kirche anders agieren als vor 20 oder 50 oder 150 Jahren. Aber ich bin zuversichtlich, dass das gelingt. Wenn ich allein sehe, wie sich unsere Kirche in den vergangenen zwei Jahren verändert hat mit einer rasanten Entwicklung bei neuen Gottesdienstformen und Seelsorgeangeboten, mit neuen diakonischen Formaten wie Nachbarschaftshilfen und vielem mehr, was entstanden ist. Die Kirchengemeinde vor Ort und auch der Gottesdienst wird dabei nach wie vor entscheidend sein. Wir werden in Zukunft unsere Strukturen flexibler machen müssen für neue Formen von Gemeinden, die je nach regionaler Ausprägung digitaler, ökumenischer oder internationaler sein werden als wir uns das heute vorstellen können.

 

 

4. Können sich andere Gemeinden etwas vom Weg der Oberharzer Gemeinden "abschauen"?

„Abschauen“ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Unsere Aufgabe in Kirchengemeinden, Kirchenkreisen und in der Landeskirche ist es, Ideen von Kirche zu entwickeln, die die jeweiligen Fragen und Bedürfnisse der Menschen vor Ort aufnehmen. Und da wird es keinen Masterplan geben, der überall gleich aussieht, sondern es geht gerade um die unterschiedliche Ausgestaltung vor Ort. Und wie mutig das die Gemeinden im Oberharz angehen, ist toll. Diese Haltung finde ich beispielhaft.

 

 

5. Wie kann Kirche langfristig neue Mitglieder gewinnen?

Wenn Menschen neu oder wieder in die Kirche eintreten, ist das großartig. Doch ich glaube, dass wir Perspektiven brauchen, die über die reine Mitgliederfrage hinausgehen: Wie können wir so Kirche sein, dass Menschen gerne bei uns mitmachen möchten, sich von unserer Botschaft angesprochen fühlen? Wir sollten so einladend wie möglich sein. Die Vielfalt gemeindlicher Themen und Schwerpunkte in unseren Kirchengemeinden ist beeindruckend, dennoch ist für die Zukunft noch mehr Mut gefragt, über klassische kirchliche Handlungsfelder und ein womöglich eingefahrenes Selbstverständnis hinauszuwachsen. Dafür sehe ich Jesu Leben und Wirken auch nach mehr als 2.000 Jahren noch als Vorbild an. Er hat seine Botschaft in jeder einzelnen Begegnung neu entfaltet. Diese innere Freiheit und Spontanität wünsche ich mir für alle Menschen, die in unserer Kirche aktiv sind.

Mareik Spillner