Annabel Wahba las im Pädagogium Bad Sachsa aus „Tausend Meilen über das Meer“
„Der Kapitän hat uns belogen. Wir sitzen fest. Es ist nicht das erste Mal auf dieser Reise, dass jemand meinen Tod in Kauf nimmt, ein syrisches Leben ist nicht viel wert in dieser Zeit.“ Mit diesen Worten erzählt die Journalistin Annabel Wahba die Geschichte eines Jungen, der vor dem Krieg in seiner Heimat Tausend Meilen über das Meer bis nach Deutschland flieht.
Am vergangenen Donnerstag und Freitag war die Autorin im Pädagogium Bad Sachsa zu Gast, eingeladen vom Kulturforum, das sie zu einer Lesung für interessierte Erwachsene und einer weiteren für Schüler eingeladen hatte. Eigentlich, so betonte sie mehrfach, ist „Tausend Meilen über das Meer“ ein Jugendbuch. Doch auch Erwachsene brauchen starke Nerven, wenn sie die Geschichte des jungen Karim Deeb hören, der ganz allein den Weg ins Ungewisse wagt, nachdem er in seiner Heimat keine Zukunft mehr hat.
Den Jungen traf Wahba im Zuge ihrer Recherchen für das Buch, die Ereignisse sind tatsächlich so passiert. Allerdings änderte sie den Namen und andere persönliche Angaben, so dass sie ganz journalistisch korrekt immer wieder von einem Roman sprach. Trotzdem schildert sie seine Erlebnisse so wenig gefiltert und so wahrheitsgetreu, dass dieser vom Tatsachenbericht kaum zu unterscheiden ist.
Es beginnt damit, dass die Familie innerhalb Syriens mehrfach umzieht, doch immer wieder vom Krieg eingeholt wird, der den Schulalltag und alles andere, was ihm als normal erschien, unmöglich macht. Gemeinsam machen sie sich schließlich auf den Weg nach Kairo und von dort aus soll Karim schließlich mit seinem Onkel nach Europa fliehen.
Im Getümmel zwischen Schleppern und einer Masse an Flüchtlingen verlieren die beiden sich aus den Augen und der Junge landet schließlich allein auf einem Boot, das ihn über das Mittelmeer bringen soll. Immer wieder hielt die Autorin inne, um die Hintergründe, die damaligen Fluchtrouten und die Zustände an der ägyptischen Küste zu erläutern. Vor diesem Hintergrund wirkten ihre gelesenen Passagen umso eindringlicher, vor allem, weil sie es nicht mit einer erwachsenen Intention, sondern mit dem unverstellten Blick eines Jugendlichen erzählt.
So gibt es immer wieder auch eine Prise Humor, die aus dem Unverständnis gegenüber der starr geordneten Welt resultiert, und in Deutschland werden für Karim andere Probleme ebenso wichtig wie der Krieg, dem er entronnen ist. So kommt er in seiner neuen Schule beispielsweise bei den Mädchen ziemlich gut an, weiß aber nicht, ob das nicht nur Mitleid ist. Bei den Jungs hingegen gibt es schon bald Rivatitäten und er ist plötzlich nicht mehr nur Flüchtling, sondern auch Teenager, was mindestens genauso anstrengend sein kann.
„Deutschland ist ziemlich verwirrend, aber ich mag es hier“, lässt Wahba ihn an einer Stelle sagen und stößt damit in ein neues Feld der Texte über Flüchtlinge vor, in denen es nicht nur um die Flucht und die großen politischen Zusammenhänge geht, sondern auch um die ganz alltäglichen Hürden der Integration, die derzeit bei vielen minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen in unserem Land eine Rolle spielen.
Insofern waren Helene Hofmann, Vorsitzende des Kulturforums, und Schulleiter Sido Kruse froh, mit Annabel Wahba und ihrem Buch einen sehr aktuellen Beitrag zur aktuelle Lebenswirklichkeit der Flüchtlinge in Deutschland präsentieren zu können. Nicht zuletzt vermag das Buch auch bei Jugendlichen den Blick zu schärfen für diverse Problematiken und Verständnis zu wecken für manch kulturelles Missverständnis.
Christian Dolle